Christoph Zöckler
Prolog
Nach drei Expeditionen in die russische Tundra ergab sich für mich Anfang Mai 1998 eine Gelegenheit, mit meinen neuen russischen Freunden in die Steppe zu reisen. Volodya Morozov zählt zu den erfahrensten Spezialisten der seltenen Zwerggans und fuhr im Auftrage der internationalen „Goose Specialist Group“, ein Zusammenschluss von gleichgesinnten Gänseforschern aus ganz Eurasien – Goose Specialist Group – Wetlands International – in das russisch-kasachische Grenzgebiet am Eykyesee, um dort Rastplätze der bedrohten Gans aufzusuchen. Die meisten Russen sind skeptisch, sich Ausländer und damit oft Probleme in die Expedition zu holen, so auch Volodya. Seine sehr starke und unfreundlich wirkende russische Art schreckt die meisten Ausländer ohnehin ab, hatte aber bei mir nicht gewirkt. Auf Empfehlung meines Freundes Zhenya hat sich Volodya bereit erklärt, Markus aus Schweden und mich mitzunehmen, was er möglicherweise doch bereut hat. Im Laufe der letzten 25 Jahre sind wir aber gute Freunde geworden und haben gemeinsame Exkursionen nach Chukotka, in den fernen Osten Russlands, nach Bangladesh, Thailand, Myanmar und China durchgeführt, uns während verschiedener Gänse-Konferenzen getroffen und uns gegenseitig schätzen gelernt.
Unendliche Weite
Seit Tagen halten wir uns in der Steppe im Süden Russlands nahe der kasachischen Grenze auf. Diese Landschaft ist ganz nach meinem Geschmack: Offen, weite Sicht. Keine Bäume oder Berge stören den weiten Blick. Als überwiegender Eindruck prägt zumindest im Frühjahr eine sandgelbe Farbe die Landschaft. Der ständig wehende Wind wiegt das alte gelbbraune Gras in Wellen über die offene Steppe. Hier beginnt nun die baum- und strauchlose Landschaft, die sich vom Süden des Urals in Europa durch ganz Zentralasien durch Kasachstan, die Mongolei bis nach China über mehrere tausend Kilometer durchzieht.
Ich fühle mich wohl in dieser Offenlandschaft, sicher und unbedrängt. Es gibt viel zu sehen, viele Vögel, aber auch Murmeltiere und besonders bemerkenswert sind die wilden Tulpen, meist gelbe aber ganz vereinzelt auch knallrote! Täglich unternehme ich unendliche Wanderungen. Es gibt keine Wege. Ich folge manchmal den Pfaden des Steppenfuchses oder der Murmeltiere. Die Steppe ist riesig. Sie erscheint unendlich und es zieht mich immer weiter in die unendliche, unbegrenzte Weite.
Ich bin mit Markus aus Schweden unterwegs. Wir reisen nun zum dritten Mal gemeinsam in Russland. Volodya begleitet uns als Expeditionsleiter. Er kennt die Umgebung sehr genau, fährt er nun hier schon zum wiederholten Male in diese Landschaft.
Zwei wesentliche Aufgaben gehören zum Auftrag unserer Expedition in der Steppe. Wir sollen versuchen zu erfassen, wie viele der seltenen Zwerggänse sich hier am Eykyesee unter den großen Schwärmen der Wildgänse auf der Zwischenrast aufhalten. Die zweite Aufgabe ist etwas anders geartet. Es geht um die Suche des verschollenen, seltenen Dünnschnabelbrachvogels, der etwas kleiner und zierlicher als unser Großer Brachvogel ist. Niemand kennt seinen wahren Brutort und seit der Mitte der 1990er Jahre gibt es keine regelmäßigen Beobachtungen mehr, auch nicht aus den bekannten Überwinterungsgebieten an der Mittelmeerküste. Werden wir den Dünnschnabelbrachvogel in der riesigen Steppe finden?
Die Steppe beherbergt eine Reihe ungewohnter Tiere. Ziesel, hamsterartige kleine Nagetiere, lugen zwischen dem Steppengras hervor, zeigen sich aber nur selten. Kurz stellen sie sich auf die Hinterbeine, überblicken ihren Lebensraum, huschen aber bei Annäherung sofort wieder fort und verschwinden in ihren Höhlen. Auch die etwas größeren Verwandte, die Steppenmurmeltiere, zeigen sich bald. Rundlich und gut mit Fett gepolstert bewegen sie sich behäbiger, doch immer noch schnell genug, um den vielen Gefahren aus der Luft zu entkommen. Ihr sandbrauner Pelz, sicher sehr begehrt unter der heimischen Bevölkerung, schützt sie vor Angriffen aus der Luft. Viele Greifvögel patrouillieren die Steppe. Der Kaiseradler und auch der Steppenadler können dem Murmeltier schon gefährlich werden. Letzterer streift sehr weit entfernt vorüber.
Doch es sind nicht nur Greifvögel als Jäger unterwegs. Auch Lachseeschwalben streifen dicht über das Steppengras in der Hoffnung, etwas Lebendiges aufzuspüren. Sie fliegen in elegantem Flug die Steppe auf und ab. Hin und wieder höre ich ihren typischen kurzen scharfen Ruf ‚keck, kaweck‘. Ich kenne sie noch gut von den Sandinseln bei Archsum auf Sylt, wo ich als Vogelwart drei Paare der seltenen Seeschwalbe in ‚meiner Kolonie‘ bewacht hatte.
Mehrmals beobachte ich, wie die Seeschwalbe kurz im dichten Flug zu Boden stößt und mit geschicktem Griff eine Eidechse ergattert. Dies beobachte ich zweimal und auch andere Bewohner der Steppe werden von den eleganten Fliegern aufgenommen. Die häufigen Wechselkröten, deren Triller man allerorts am Ufer des Sees und an kleinen Lachen hört, werden wohl gemieden, denn ihre Haut ist ungenießbar, auch für die meisten Vögel.
Volodya – unser Expeditionsleiter
Volodya ist schon oft in der Steppe gewesen und mit viel Erfahrungen richtet er unser Lager ein. Mit Spaten werden Löcher gegraben, wo unser Proviant vor den vielen Mitbewohnern in der Steppe versteckt wird und in der Hitze des Tages kühl bleibt. Auch wird eine Feuerstelle ausgegraben. Leonid von der Naturschutzbehörde hat uns einen Haufen Äste dagelassen und eine Axt, um Feuerholz zuzubereiten. Volodya bittet Markus, Holz zu hacken, doch Markus ist nicht wirklich damit groß geworden und quält sich arg damit. Immerhin bin ich mit dem Holzhacken einigermaßen vertraut und kann so unseren schon ohnehin angeschlagenen Ruf als westliche Taugenichtse etwas abmildern. Doch sollte ich mich nicht lange darauf berufen können und konnte noch auf andere Weise später dazu beitragen, den voreingenommenen Eindruck der Russen doch wieder zu bestätigen, dass wir Westler alle zu weich sind. Aber dazu später.
Abends wenn die Sonne untergeht, selbst jetzt im Mai, wird es bitterkalt. Und wenn unser Feuer abgeklungen ist und wir unseren Tee ausgetrunken haben, steigen wir allein in unser Zelt. Es wird auch schnell dunkel, anders als ich es von der Tundra im Sommer her gewohnt bin. Im Zelt gilt es zunächst, die Socken, Schuhe und Hosen mit der Taschenlampe nach Zecken abzusuchen und diese freundlichst aus dem Zelt zu befördern. Es sind sehr große Zecken, spezielle Zecken die sich an die großen Huftiere der Steppe angepasst haben, wie an die Saigaantilopen. Uns beißen sie eher nicht, jedenfalls in den meisten Fällen nicht.
Der Zeckenbiss
Eines Morgens bemerke ich jedoch, dass sich eine Zecke bei mir am Kopf im Haar verbissen hat. Ich frage Markus, ob er mir helfen kann, sie zu beseitigen. Markus ist etwas unsicher, doch ich ermutige ihn, sie hinauszudrehen und es scheint auch zu klappen. Vielleicht ist sie nicht ganz herausgekommen und einige Mundwerkzeuge blieben stecken. Jedenfalls hat sich die Stelle nach ein paar Tagen etwas entzündet. Nach weiteren zwei oder drei Tagen spüre ich, dass sich auch meine Mandeldrüsen etwas angeschwollen haben. Zwischenzeitlich sind wir innerhalb der Steppe weiter nach Norden in der Nähe von Arkaim in einen Steppen Naionalpark gekommen. Es gibt reichlich Vögel zu beobachten. Besonders eindrucksvoll sind die Rotfussfalken in Kolonien in den Birken nahe unserer Unterkunft. Dich an dicht stehen hier die Falkennester nebeneinander. Nutzen sie alte Saatkrähenkolonien, denn selbst können die Falken keine Nester bauen?
Wir sind in einem kleinen Dorf untergekommen und wir unternehmen viele Exkursionen in die reichhaltige Steppe.
Mein Gesundheitszustand wird jedoch schlimmer von Tag zu Tag und ich frage Volodya was wir machen können. Er fühlt sich für uns Ausländer verantwortlich und ist besorgt. ‚Ihr Ausländer seid zu weich und nicht hartgesotten genug, habt nicht genug Abwehrkräfte und schon fangt ihr Euch wieder neue Krankheiten ein.‘ Er ist ordentlich am Jammern und willigt doch schließlich ein, den Feldscher im Ort aufzusuchen. Die oder der Feldscher sind medizinische Hilfskräfte, die zwischen Schwester und Doktor stehen. Sie können viel ohne den Doktor bereits erledigen, denn oft gibt es in diesen abgelegenen Gegenden keinen Arzt. Das Feldschersystem ist eigentlich eine sehr gute Einrichtung um dieser Not zu begegnen. Das Wort Feldscher kommt aus dem deutschen und zwar aus dem militärischen Sprachgebrauch und ist wahrscheinlich als sehr veralteter Begriff den meisten Deutschen nicht mehr geläufig, Da nun im Militär früher keine Frauen zugelassen waren, gibt es den Ausdruck Feldscherin so eigentlich nicht.
Die Feldscherin Vera
Die Dame, die Voldya nun geholt hat, ist die Feldscherin im Ort. Sie stellt sich mit dem Namen „Vera“ vor und spricht sehr laut mit mir. Volodya muss ihr erzählt haben, dass ich ‚Niemzi‘, also Deutscher bin und nicht gut russisch spreche. Vielleicht spricht sie deswegen etwas lauter mit mir, doch verstehe ich immer noch nicht alles und daraufhin wird sie noch lauter.
Sie schaut sich meinen Zeckenbiss an und fühlt meine angeschwollenen Mandeln. Sie meint, dass es für sie zu viel ist und ich doch zum Arzt müsse. Dieser sei nicht weit im Nachbardorf und wir fahren dort gemeinsam hin. Der Arzt wohnt in einem kleinen Holzhaus, blau weiß gestrichen, ganz in dem Stil, der für Russland so typisch ist. Ein kleiner Vorgarten und Holzzaun mit feinen Verzierungen schmücken den Garten, doch es kommt keiner, auch als wir zum dritten Mal an die Tür klopfen. Nach einer Weile hören wir jedoch jemanden von hinten aus dem Garten rufen und ein großer breitschultriger Mann bewegt sich mit einer Forke in der Hand auf uns zu. Vera kennt ihn natürlich und sie erklärt, worum es geht. Er reicht mir seine riesige Hand und meint, er wäre gerade am Kartoffeln pflanzen und er müsse sich erst nochmal die Hände waschen. Ich solle aber schon mal hereinkommen und er bittet mich in einem Behandlungszimmer Platz zu nehmen. Nach einer Weile kommt er mit sauberen Händen ins Zimmer. An seinen Fingernägeln sind noch die Spuren der Gartenarbeit zu erkennen, doch es macht sonst alles einen sehr sauberen Eindruck. Seine Ausstrahlung ist auch beruhigend und ich fühle mich wohl dabei, von ihm behandelt zu werden.
Der gute Mann sieht sich meine Stelle am Kopf an und schneidet ein wenig das Haar frei. Er sagt, dass es sich entzündet habe und ich solle Antibiotika nehmen. Er gibt mir auch eine Spritze, aber fügt hinzu, er hätte nicht soviel Antibiotika, wie ich seiner Ansicht benötigen würde und ich müsse nach Bredy, der nächsten Stadt, zur Behandlung. Vera und der Arzt tauschen noch einige Gedanken und Anweisungen aus und ich verabschiede mich wieder von dem Arzt. Vera ist nun zunehmend aufgeregt und sie spricht immer lauter mit mir. Zurück bei meinen Freunden erklärt sie alles Voldya, der zunehmend besorgt ist, mir auch die letzten Feinheiten nochmals erklärt, nicht ohne wieder in sein Jammern über die weichen Ausländer zu verfallen. Doch diesmal ist er wirklich sehr besorgt. Nur ungerne lässt er mich alleine mit Vera nach Bredy abreisen.
Im Krankenhaus von Bredy
Es sind über 100 km und die Straßen sind nicht überall gut ausgebaut. Vera fährt nicht gerne weite Strecken und so wird ihr Mann schnell rekrutiert. Zu dritt machen wir uns auf den Weg und fahren wieder näher an die kasachische Grenze nach Bredy. Die kleine Stadt hat vielleicht 50,000 Einwohner und wir fahren direkt zum Krankenhaus. Im Wartesaal sitzen bereits fünf weitere Personen. Keiner macht einen gesunden Eindruck. Eine Frau trägt einen riesigen Verband ums Bein und es sieht nicht gut aus. Doch schon nach wenigen Minuten geht die Tür auf und der Arzt mit deutlich asiatischem Einschlag kommt, ohne die anderen zu beachten, direkt auf mich zu und sagt. ‚Du bist der nächste. Es macht 100 Deutschmark.‘
Ich weiß nicht, was ich sagen soll und er bemerkt wohl meine Unsicherheit und fügt noch lachend hinzu ‚Schutka‘ (Scherz), denn die Krankenversorgung in Russland ist für alle, auch für Ausländer, umsonst. Trotzdem weiß ich nicht so recht, was ich davon halten soll. Vielleicht möchte er doch ein wenig Trinkgeld abstauben. Vera winkt ab und schon sehe ich mich im Behandlungszimmer an einem Tisch sitzen. Es ist mir peinlich, hier so bevorzugt behandelt zu werden, doch Ausländer kommen hier wohl nur sehr selten vorbei und für den kasachischen Arzt bin ich heute die Sensation. Ich solle bitte den Kopf nach unten halten, damit er besser die Stelle besichtigen kann. Er bestätigt, was die anderen gesagt haben und schneidet noch ein bisschen mehr frei, spritzt mir genau an die Stelle am Kopf.
Ich sehe auf den Boden. Hier ist es diesmal nicht ganz so sauber, wie wir es in Deutschland gewohnt sind, auch nicht so wie beim Dorfarzt nahe Arkaim. Zwischen alten Blutflecken huschen auch ein paar der in Russland unweigerlichen Kakerlaken über den Boden. Doch es stört mich nicht. Ich fühle mich in guten Händen. Der Arzt erklärt, dass ich ab jetzt noch sieben weitere Tage jeweils eine Spritze bekommen muss. Vera macht sich Sorgen, wie dies vonstatten gehen soll, doch wir werden dies auch noch organisieren. Wir verabschieden uns herzlichst und begeben uns auf die lange Fahrt zurück.
Schon bald wird es dunkel und mir ist nicht ganz wohl. Ich lege mich auf der Rückbank zum Schlafen und merke, wie ich immer stärkeres Fieber bekomme. Ich weiß nicht, wie lange wir schon gefahren sind und schon gar nicht, wo wir sind, als wir anhalten und ich erklärt bekomme, dass dies Veras Elternhaus ist und wir hier die Nacht über bleiben. Ich würde am liebsten gleich schlafen gehen, doch es heißt, ich muss mich auf jeden Fall noch stärken. So sitzen wir alle zusammen mit Vera’s Eltern und zwei anderen Gästen am Tisch. Es gibt Fleischklöße und ich schaffe es sogar, einige zu essen, doch mein Fieber ist nach wie vor hoch und der Appetit gering. Da es Freitag Abend ist, wird auch eine kleine Karaffe mit Vodka auf den Tisch gestellt und jeder bekommt ein kleines Gläschen. Veras Mann fordert mich auf, mitzutrinken. Ein Gläschen könne doch nicht schaden. Als ich jedoch ablehne, legt er noch nach und behauptet sogar, dass Vodka gut gegen den Zeckenbiss sei. Doch da greift die Feldscherin ein und sagt, dass es sich nicht mit dem Antibiotikum verträgt. Endlich werde ich entlassen und finde einen unruhigen, fieberhaften Schlaf.
Veras Vater
Am nächsten Morgen bin ich erholt. Ich stehe früh auf, aber ich bin nicht der erste, der wach ist. Veras Vater ist auch schon auf. Er geht mit Krücken auf nur einem Bein. Mir war dies gestern nicht aufgefallen und ich weiß gar nicht, wie die Sache mit dem Bein passiert ist. Dies ist sein Haus und er scheint sich ohne große Mühe zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her zu bewegen. Kaum hat er mich erblickt, ruft er mir freundlich, fragend, ja geradezu fordernd ‚Igrale schachmatti?‘ zu. Mir ahnt Schlimmes. Ich habe riesigen Respekt vor den russischen Schachspielern und meistens ziehe ich den Kürzeren. Es ist noch früh. Alle anderen schlafen noch und es sieht nicht so aus, als ob es gleich Frühstück geben würde – wie kann ich in diesem Moment dieses Angebot ausschlagen und so willige ich ein. Schon so oft gab es in Russland Situationen, wo wir warten mussten, warten auf den Weitertransport, den Hubschrauber, das Fährschiff, auf irgendjemanden oder in Situationen waren, in denen alles in Stocken kam, wo Zeit totgeschlagen werden musste.
Schachspielen im Sturm
Im Lenadelta im hohen Norden, saßen wir einmal mehr als 10 Tage wegen eines Sturms und hohen Wellen an der Polarstation im Norden des Deltas fest. Drei Tage spielte ich mit dem Heizer der Station Schach und hatte schon sechs Spiele verloren, doch die nächsten drei Spiele gingen dann zu meinen Gunsten aus. Am darauffolgenden Abend kamen zwei Ranger völlig entkräftet von den Strapazen des Sturms aus der Tundra und durchnässt in der Station an und bekamen bei uns Unterschlupf. Als sie sich einigermaßen erholt hatten, kam der ältere von ihnen, halb Yakute halb Russe, auf uns zu und spielte zunächst mit dem Heizer und später auch mit mir Schach. Weder der Heizer noch ich hatten die nächsten Tage eine Chance, gegen ihn zu gewinnen. Das Wetter neigte sich eher weiter zum Schlechten und es blieben uns weitere Tage und Stunden, die zwischen den Mahlzeiten mit dem Schachspielen verbracht wurden. Einmal dachte ich, dass ich es geschafft hätte und ich war zuversichtlich, ihn diesmal mattgesetzt zu haben. Doch er hatte sich aus der meiner Meinung nach unmöglichen Lage wieder befreien können. Bis heute weiß ich nicht, wie es ihm gelungen war. Immerhin konnte ich noch ein Remis herausholen.
Diese Geschichte aus dem Vorjahr war mir noch sehr bewusst, als wir nun die Figuren aufstellten. So verlor ich dann auch die erste Partie, auch die zweite folgte bald und Veras Vater fragte höflich, ob ich noch weiterspielen möchte. Wir sprachen wenig, da wir beide die Sprache des anderen kaum verstehen konnten. Meist mit Zeichensprache wurden die nächsten Schritte beschlossen. Ich willigte ein, weiterzuspielen. Nun wollte ich es aber auch nochmal wissen und ich war ganz im Spiel verloren. Tatsächlich habe ich gewonnen. Zwischenzeitlich wurde, von mir fast unbemerkt, auch Tee bewirtet und ich glaube, auch etwas zu Essen wurde geboten, auch schienen all die anderen längst auf und beschäftigt, doch ich kann mich nicht mehr erinnern, so sehr waren wir in das Spiel vertieft. Das vierte Spiel wurde nicht entschieden. Es war schon später Morgen und Voldya mit Fahrer holten mich ab. Der Abschied von Vera und meinem neuen Schachfreund war sehr herzlich und sichtlich genesen bewegte ich mich aus dem Haus.
Der Kriegsveteran
Erst eine ganze Weile später an diesem Tag wurde mir berichtet, wo Veras Vater sein Bein verloren hatte. In Stalingrad. Im Kessel, wie es so viele Deutsche beschrieben haben. Im Moment des Gewahr Werdens lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich war wahrscheinlich der erste Deutsche, den Veras Vater nach den Vorfällen aus dem letzten Krieg – oder soll ich besser sagen – Schlacht, getroffen hat. Was für eine Begegnung und was für eine besondere Ehre war es für mich, mit diesem Menschen Schach gespielt haben zu dürfen. Wieviel Traurigkeit und wieviel Glück zugleich!
Vogelzählung
Es ist wohl kein Geheimnis, dass wir den Dünnschnabelbrachvogel nicht gefunden haben. Doch fanden wir den seltenen Steppen-Regenbrachvogel, sogar ein Nest.
Aber davon und auch von den Schwierigkeiten, die meine Reisebegleiter in der Folge mit den Spritzen bei mir hatten, vor allem von den beiden Krankenschwestern in der Bahnhofsstation von Magnetigorsk, muss an anderer Stelle berichtet werden.