Der Mammutzahn

Christoph Zöckler

Präambel

Im Rahmen meiner Tätigkeit für das World Conservation Monitoring Centre in Cambridge, Großbritannien, am Aufbau einer Datenbank über die Verbreitung von arktischen Wasservögeln bin ich auf Einladung von Dr. Ewgeny Syroechkowski (Zhenya) von der russischen Akademie der Wissenschaften Mitte der 1990er Jahre mehrere Male in die sibirische Arktis nach Yakutien gereist. Insgesamt habe ich die russische Arktis bis 2019 siebzehnmal besucht und zusammengezählt fast zwei Jahre dort verbracht. Es ist vielleicht für Aussenstehende unverständlich und in der Rückschau auch für mich nicht immer ganz nachvollziehbar, was mich immer wieder dorthin gezogen hat, aber vielleicht wird die eine oder andere Geschichte in dieser Folge etwas mehr Licht in die wahren Beweggründe für meine Reisen in diese fremde, aber faszinierende Welt bringen.

Die folgende Begebenheit fand genau vor 25 Jahren im Jahre 1996 statt und ist als Jubiläum meinen russischen Freunden gewidmet, mit denen ich so viele Reisen gemeinsam unternommen habe.

Mehr Details zu den wissenschaftlichen Ergebnissen aus dieser Periode:

Details – Patterns in biodiversity in Arctic birds. WCMC Biodiversity Bulletin No. 3 – Biodiversity Heritage Library (biodiversitylibrary.org)

Waterbirds on the Edge: first circumpolar assessment of climate change impact on Arctic Breeding water birds | UNEP – UN Environment Programme

Es ist nicht einfach, nach Sibirien zu reisen. Aber noch schwieriger ist es, von dort wieder wegzukommen.

Ich warte mit meinem Freund Zhenja am Ende einer kaum befestigten Strasse, die in einem ausgeweiteten runden Platz mündet und mit kleinen Steinen ausgestattet ist. Die Strasse endet hier. Ein wenig weiter ist uns der Zugang durch dichtes Gebüsch versperrt. Ein freundlicher Fahrer der lokalen Administation hat uns an diesen abgelegenen Ort gebracht. Zhenya hatte in Erfahrung gebracht, dass eine Delegation von Parlamentariern aus Deputatsky im Ort mit den Minenarbeitern verhandelt. Die Arbeiter haben seid gut einem Jahr keinen Lohn erhalten und drohen nun mit Streik. Die neuen Eigentumsverhältnisse und Umstellungen nach der Perestroika haben einige ruppige Missgeschicke mit sich geführt und die Mineneigner sind zahlungsunfähig geworden. Die Verhandlungen sind noch im vollen Gange, aber der Hubschrauber wird in jedem Fall heute noch zurückfliegen und würde in wenigen Minuten kommen, heisst es. Ich habe schon die sibirischen Zeiteinheiten kennengelernt und für deutsche Zeitempfindung sehr schmerzvolle Lernkurven hinter mir und stelle mich nun auf mehrere Stunden Wartezeit ein. Auch Zhenja kann auf Nachfrage keine genaueren Angaben machen. Es ist schon bewundernswert, wie er trotz der vielen Rückschläge unbehelligt weitersucht und nun diese Hubschraubervariante für meine Rückreise organisiert hat. Nachdem wir bereits zwei Flugzeuge, eines in Kasatschie und das andere hier in Kular verpasst haben, ist dieser zufällige Hubschrauberflug meine letzte Chance noch innerhalb dieser Woche von hier wegzukommen. Nun warten wir mal wieder auf den Hubschrauber. Wie oft habe ich schon auf Hubschrauber in Sibirien gewartet? Der Wagen mit Fahrer ist wieder im Dickicht des Grüns verschwunden und eine unglaubliche Stille kehrt ein. Sie beruhigt auch ein wenig. Dennoch bin ich innerlich unruhig und angespannt. Ich lasse die letzten Tage Revue passiern.

Wegkommen aus Sibirien

In Kasatschie wurden wir zu spät über den ausserplanmäßigen Flug informiert. Das planmäßige Flugzeug hatte sich schon um mehrere Tage wegen des schlechten Wetters verschoben. Später erfuhren wir, dass es wegen Stromausfall in Nishnijansk nicht auftanken konnte. Obwohl mein Gepäck schon für alle Fälle bereitstand und das Tischtennisspiel in Semeons Wohnzimmer sofort unterbrochen wurde, brauchte es doch noch ein paar Minuten, um alles zusammenzupacken, auf den Motorradbeiwagen zu schnüren und die Sandwege durch den Ort hinten auf dem Motrorrad zum Fluss zu fahren. Am Bootsanleger mussten wir alles auf ein kleines Boot umladen und den kleinen Arm des Janafluss bis zum Flugplatz überqueren, der auf einer dem Ort gegenüberliegenden Flussinsel liegt. Das Flugzeug stand schon abflugbereit und wir konnten den Motor hören. Aber das Boot sprang wie so oft nicht an. Endlich gelang es, doch wir sahen nur ein sich langsam von uns davon bewegendes Fluzeug und ich sah mich in dem kleinen Boot auf den kleinen Wellen hin und herdümpeln. Keine Chance, dieser Flieger ist ohne uns abgeflogen.

Nun wurden Pläne geschmiedet und Nachrichten erreichten uns, dass das nächste Fluzeug den folgenden Nachmittag von Kular starten würde, ungefähr 60 km flussaufwärts gelegen. Der Jana ist kein kleiner Fluss. Er gehört zu den 20 großen Flüssen, die gewaltige Wassermassen ins arktische Meer ergiessen. Ihn aufwärts mit den kleinen Booten zu fahren erfordert große Anstrengungen. Ein zweiter Motor wird organisert und irgendwie noch an das kleine Boot befestigt. So wurde uns versichert, können wir Kular noch rechtzeitig erreichen. Die beiden Zwillinge aus dem Ort, denen das Boot gehört, fuhren uns mit meinem Gepäck am nächsten Morgen in Richtung Kular. Die Strömung des Flusses ist enorm und mit beiden Motoren schaffen wir es gerade ein wenig vorwärtszukommen. Vorbei an den grossen Kliffs des Flusses, der sich in das Eis des Permafrosts reingfressen hat und bizarre Eisformen bildet.

Ungewöhnliche Mitbringsel aus der Vergangenheit

Manchmal kommen auch Knochen aus der Vorgeschichte zum Vorschein. Sie sind seit gut 10.000 Jahren oder noch länger im Eis versteckt. Manchmal finden sich sogar Tiere mit Haut und Haar. Allerdings ist das sehr selten der Fall. Meist sind es Knochen. An der Wetterstation nahe von Kasatschie hat mir Lena die Stationsleiterin aus einem riesigen Knochenhaufen einen Kiefer mit Zähnen des Wollnashorns als Geschenk angeboten. All diese vorzeitlichen Knochen können jederzeit aus dem Eis am Flussufer freigespült werden. Einen riesigen Beinknochen, vermutlich auch vom Mammut, den ich am Ufer eines Sees bei Kasatschie selbst gefunden hatte, habe ich aus Gewichtsgründen hiergelassen. Dafür hatte man mir die Spitze eines Mammutzahns als Geschenk überreicht. Auch den Kiefer vom Wollnashorn habe ich im Gepäck, sowie kleine Splitter vom Mammutzahn, die Semeon und ich an dem See mühsam aus dem Eis gezogen haben. Doch diesmal entdeckte ich keine Knochen. Ich war zu sehr angespannt und sorgte mich zu sehr um den Anschlussflug, als dass ich entspannt das Eis absuchen konnte.

Die Kunst des Improvisierens

Verschiedene Enten fliegen schnell am Boot vorbei. Ein Unglückshäher kreuzt den Fluss. Hoch über uns vollführt eine Spiessbekassine immer noch ihre bizzarren Flugspiele. Für einen Moment denke ich, dass wir es wohl diesmal schaffen. Kaum gedacht ruckelt das Boot und einer der beiden Motoren stoppt und ist ausgefallen. Wir steuern eine Sandbank an. Zhenya und ich steigen aus, kämpfen sofort mit den Mücken, während die beiden Zwillinge schon nach wenigen Minuten mit Öl verschmiert sind und die Reparatur sich in eine größere Aktion entwickelt hat. Zhenya beruhigt mich, dass noch immer genügend Zeit ist. Doch die Zeit vergeht und es sieht nicht so aus, als ob der zweite Motor schnell repariert werden kann.

In diesem Moment taucht auf der anderen Seite der Insel überraschenderweise ein kleineres Boot auf. Zhenja ruft den beiden Insassen sofort zu. Sie steuern auf uns zu und ich sehe ein Pärchen mittleren Alters, sie mit Sonnenbrille und Kopftuch in feiner Gardarobe, wenn auch wetterfest, so doch ausgesprochen elegant und wirkt wirklich fehl am Platz. Er ist jedoch mit Jagdausrüstung in Tarnmontur und Gewehr an der Seite ausgerüstet. Beide erinnern sie eher an zwei Gestalten aus einem falschen Tarentinofilm. Sie passt in ihrer ganzen Aufmachung überhaupt nicht in die Landschaft. Während er aussteigt, das Boot hält und uns begrüßt, bleibt sie ungerührt in ihrer ‚Feine-Dame-Position‘ an ihrem Platz sitzen. Natürlich nehmen sie uns mit. Ja, sie fahren auch nach Kular. Es stellt sich heraus, dass er als Ingenier in der dortigen Goldmine arbeitet und heute zu einem kleinen Jagdausflug mit seiner Freundin den Fluss auf und abfährt. Zhenja, der selbst gute 100 Kilogramm wiegt, erklärt mir dass das Boot mit ihm und meinem Gepäck nicht schnell genug ist, um meinen  Flieger noch rechtzeitgig zu erreichen und schlägt vor, dass er hierbliebe und ich mit den beiden, die kein Wort englisch sprechen, weiterführe. Doch dies ist mir zu ungewiss und Zhenja kommt doch mit. Wir verabschieden uns von den beiden Zwillingen und steigen zu den beiden in das kleinere Boot, dass nun mit nur einem Motor gegen den Strom kaum vorwärtskommt. Im Boot neben mir liegen zwei frisch geschossenen Eisenten. Ich blicke wieder auf die steilen Eiswände am Flussufer und auf meine drei Mitinsassen im Boot. Sie lachen viel und es werden viele Geschichten ausgetauscht. Hin und wieder kehrt sich Zhenja zu mir nach hinten und übersetzt ein wenig. Er ist sehr gut darin und es macht ihm auch sichtlich Spass hier neue Kontakte zu knüpfen. Nach einer Weile im Boot erklärt er mir, dass wir es wohl nicht rechtzeitig schaffen.

Wir kommen wirklich nur sehr langsam voran und Zhenja erläutert mir, dass die beiden bald nicht mehr genug Benzin haben werden. In Wirklichkeit wussten sie schon von dem Moment an, wo sie uns an Bord geholt hatten, dass sie nicht ausreichend Benzin für unser gemeinsames Ziel hatten. Dies ist wirklich bemerkenswert, ja völlig undenkbar in unseren Breiten. Es grenzt schon fast an Unverantwortlichkeit, ähnelt dem Gottvertrauen, dass viele Asiaten an den Tag legen, ruht aber mehr auf den großen Erfahrungen in dieser wilden Natur, jederzeit irgendwie zurecht kommen zu können. Ich bin erstaunt und bewundere immer wieder diese Menschen.

Bald kommen tatsächlich auch unsere Zwillinge mit ihrem Boot und holen uns wieder ein. Der zweite Motor ist repariert und wir dürfen wieder das Boot wechseln. Wie selbstverständlich geschieht der Wechsel und wir verabschieden uns wieder, diesmal nicht ohne dass Zhenja sich ein paar Notizen macht und Namen und Addressen austauscht. Mit beiden Motoren kommen wir nun schnell voran. Doch nach einer weiteren Weile sehen wir vor uns, noch weit entfernt, über den Fluss ein Flugzeug im steilen Flug nach links vorbeiziehen. „I‘m afraid that is your aeroplane“ sagt er in einem leicht lakonischen, aber auch etwas bedauernden Unterton. Nun ist es klar und eigenartigerweise entspanne ich mich auch etwas, obwohl wir alle keine Ahnung haben, wie es jetzt überhaupt weitergehen kann. Eine Situation, die ich in Russland sehr oft erlebt habe, die auch oft Panik unter den Westlern und besonders den Deutschen hervorgerufen hat, aber bei den Russen selten oder nie auch nur für Unruhe sorgt.

Bald darauf erreichen wir Chernoie, den Hafen von Kular. Zhenja setzt mich mit meinem Gepäck auf einer Bank in der Dorfmitte ab und verschwindet im Gebäude der Administration. Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen und ich weiss wirklich nicht, wie ich nun von hier noch wegkommen kann. Aber Zhenja scheint eine Lösung gefunden zu haben. Er fährt mit Fahrer in einem Jeep vor und ich werde mit Gepäck eingeladen mitzukommen.

Eine ungewöhnliche Hubschrauber-Verbindung

Die Mücken haben uns am Hubschrauberwarteplatz sofort gefunden. Jetzt Ende Juli haben sie fast ihren Höhepunkt überschritten. Es wird Zeit, unser Kopfnetz zum Schutz überzuziehen. Mückenspray und Kopfnetz sind schon zur Routine geworden. Es vergehen viele Stunden, doch Zhenya und ich haben noch viele Geschichten auszutauschen und es entsteht keine Langeweile. Es scheinen bereits mehrere Stunden vergangen zu sein und es gibt keine Spur von einem Hubschrauber. Stattdessen erscheint plötzlich unser Jeep wieder. Der Fahrer erklärt kurz, wir mögen doch wieder einsteigen. Ich verstehe nicht alles und leicht verwirrt steige ich wieder in den bereits bekannten Jeep. Während der Fahrt zum eigentlichen Helipod in Kular erklärt mir Zhenya, dass die Verhandlungen der Minenarbeiter mit den Parlamentariern nicht recht vorankommen. In der Tat sind die Verhandlungen in eine Art Besäufnis ausgeartet und es sieht nicht so aus, als ob die Palarmentarier heute noch zurückfliegen würden. Unser Fahrer scheint aber erfahren zu haben, dass der Hubschrauberpilot sehr verärgert ist und auf jeden Fall zurückfliegen möchte und hat uns deshalb schnell abgeholt. Kaum haben wir den Hubschrauber erreicht, springt Zhenya heraus und erzählt dem Piloten, er möge doch bitte diesen bedeutenden deutschen Wissenschaftler mit nach Deputatsky mitnehmen. Ohne zu zögern und einen weiteren Grund willigt der schon leicht genervte Pilot ein. Der Abschied von Zhenya ist kurz, aber herzlich und ich sehe mich wenige Sekunden später inmitten einer kleinen Gemeinschaft von drei weiteren Einheimischen, die ohne die Palarmentarier mit mir den Weg nach Deputatsky teilen. Einige Mücken haben es auch geschafft und sind mit an Bord gekommen. Vollgesogen versuchen sie aus den Fenstern zu entkommen. Der Copilot öffnet eines der Fenster, was im Hubschrauber in der Regel kein Problem ist, und alle Mücken entkommen. Unter uns bietet sich mir ein ungetrübter, unbeschreiblicher Ausblick auf die sibirische Wildnis. Wir fliegen über rollende Berge, über Tundra und Lärchenwälder, deren Farben sich jetzt zum Ende des Sommers hin von grün zu rot abwechseln. Im Schatten einiger Berge hat sich vehement ein wenig Schnee gehalten. Die Lärchenwälder sind jetzt grün, die Tundra erscheint in verschiedenen Braun- und Rottönen. Häßliche graue Löcher inmitten des Grüns deuten auf verschiedene Minen hin, wo die Erde aufgerissen wurde. Ansonsten scheint die Wildnis endlos zu sein.

Der zweite Teil folgt im August 2021.

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Dr. Christoph Zöckler

Seit Kindesbeinen ist Christoph Zöckler an der Natur interessiert und schon als Jugendlicher hat er sich für den Naturschutz eingesetzt. Nach dem Biologiestudium in Kiel und Aberdeen arbeitete er für die Umweltstiftung WWF-Deutschland und WWF-International im Feuchtgebietsschutz in Norddeutschland und in Polen und später an der Universität Bremen. Die Verlockung der russischen Arktis führte ihn über das “World Conservation Monitoring Centre“ der UNEP in Cambridge, U.K., viele Male in die Wildnis der russischen Arktis und von dort, den wandernden Wasservögelarten folgend, in die Küstengebiete Südost-Asiens, wo er die letzten zwölf Jahre beim Schutz der Watten und Mangroven engagiert ist.  Seit 1996 hat er seinen Lebensmittelpunkt nach Cambridge verlagert, besucht aber regelmäßig als Butenbremer seine alte Heimat in Deutschland, wo er auch als Berater für die „Manfred Hermsen Stiftung“ und den NABU tätig ist.