Die Krim. Naturschutz in den Zeiten vor dem Krieg

Christoph Zöckler

Vorbemerkung zum Ukraine-Krieg

März 2022: Die Bilder im Fernsehen und die Nachrichten der langsam bei uns in Deutschland und anderswo in Europa eintreffenden Flüchtlinge aus der Ukraine sind schrecklich. Wie die allermeisten meiner Mitmenschen bin ich im Schockzustand, kann es nicht glauben und will es nicht wahrhaben, dass die schöne, gute Zeit meiner Reisen in den Osten Europas vorbei zu sein scheint. Die jüngsten Ereignisse des Krieges, der im Februar 2022 begann, lassen es nicht zu, die folgende Geschichte unkommentiert stehen zu lassen. Alle meine Freunde in der Ukraine, aber auch die meisten in Russland, sind im Schock und verurteilen die Gewalt. Einige sind erfolgreich nach Bulgarien geflohen. Sie alle fordern ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen und einen Waffenstillstand. Ob dies gelingen wird, ist mehr als fraglich. Es sieht so aus, als ob beide Kriegsparteien fest entschlossen sind, bis zum Ende zu kämpfen. Der Rest der Welt sieht mit Entsetzen und voller Ohnmacht zu.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele der unten beschrieben Orte durch die aktuellen Kampfhandlungen und Truppenbewegungen zerstört oder zumindest arg in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Ukraine berichtet am 14. März 2022, dass mindestens 14 Ramsargebiete, meist an der von uns besuchten Schwarzmeerküste mit einer Fläche von fast 400.000 Hektar zerstört wurden. Dazu kommen weitere Schutzgebiete im ganzen Land und es wird geschätzt, dass gut ein Drittel der Naturschutzfläche der Ukraine durch den Krieg bereits vernichtet sind: https://mepr.gov.ua/en/news/39034.html

Oleg ist sicher in Kiew, wie er vermeldet. Von den anderen weiss ich nichts über ihren Verbleib. Viele Ukrainer konnten fliehen und berichten nun von unvorstellbaren Gräuelgeschichten und den Lügen, die den Krieg rechtfertigen sollen. Auch im Nachbarland Weissrussland sind Moore und Feuchtgebiete durch Truppenbewegungen und Manöver zerstört. Die Waldbrände um Tschernobyl sind Grund zu grosser Besorgnis, zwar nichts Neues, aber das Ausmaß mag sich jetzt noch gesteigert haben. Mein Freund Viktar sitzt im Gefängnis und seine landesweite Naturschutzorganisation ist als staatsfeindliche Organisation verboten worden.

Sind die glücklichen unbekümmerten Jahre des Reisens und der internationalen Zusammenarbeit nun vorbei? Die folgende Geschichte, die sich vor gut 10 Jahren zugetragen hat, erscheint im Nachklang unwirklich, wie eine Episode aus vergangenen Zeiten. Die historischen Ereignisse auf und um die Krim herum, auf die die Geschichte kurz Bezug nimmt, lassen jedoch schon erahnen, dass der kurze Frieden, wovon wir einen kurzen, herrlichen Einblick erhielten, trügerisch war.

Die Krim

Der Sandweg auf der langen Nehrung wird immer beschwerlicher und ich wundere mich mit welcher Zuversicht Oleg den Wagen meisterhaft durch den Sand steuert. Als unser Wagen endlich zum Stehen kommt, sieht es so aus, als hätte jemand mitten in der Landschaft einen Tisch gedeckt. Wir waren schon angekündigt und eine riesige, wenn nicht ausladende Tafel war mit viel zu vielen Leckereien aufgefüllt. Es ist warm und die Septembersonne scheint grell. Unsere beiden Gastgeber sitzen im Halbschatten der spärlichen Büsche und vereinzelten Bäume auf einem Brett, das zwischen zwei Holzkisten als Bank dient. Sie haben alles gut für unseren Besuch vorbereitet. Alexander Mykytyuk ist schon seit mehreren Tagen hierher aus Kiev gefahren und hat sich auf mehrere Wochen Solitude eingestellt und heisst unseren Besuch als Abwechslung sehr willkommen. Wir kennen Alexander von verschiedenen Seminaren zur Moorwiedervernässung auf der Insel Vilm und freuen uns, ihn hier wiederzutreffen. Etwas abgelegen steht ein weißes, fast fensterloses Haus, etwas versteckt in den dornigen Büschen. Es scheint schon lange nicht mehr regelmässig bewohnt, hat keinen Strom und auch kaum Möbel, auf jeden Fall keinen Ofen oder Herd, dient aber Alexander als vorübergehende Bleibe hier an der nördlichen Schwarzmeerküste der Ukraine.

Reisegefährte auf der Krim

Vor uns erstreckt sich die menschenleere Nehrung Kossa Nostra um viele weitere Kilometer. Sie schliesst riesige Lagunen mit Salzwiesen, Wattflächen und Sandinseln ein. Ein idealer Platz für Wasservögel. Rosapelikane fliegen vorbei. Brachvogel, Kiebitzregenpfeifer und Grünschenkel rufen von den nahen Salzwiesen. Alexander sucht im Auftrag von BirdLife International hier an der Küste nach dem seltenen Dünnschnabelbrachvogel, einem Vogel, von dem schon seit bald 10 Jahren weltweit keine Beobachtung mehr gelungen war.

Wir werden zu Mittag an den Tisch gebeten. Wurst, Käse, frisch gebackenes Brot, Gurken, Tomaten, getrockneter und frischer Fisch, Salate, Obst und natürlich ein paar Flaschen Bier füllen den sehr provisorisch erscheinenden Tisch. Aus den Büschen nebenan ruft ständig etwas Unbekanntes und unruhig geworden muss ich erstmal nachschauen und entdecke viele Gelb- aber auch Blassspötter. Auffallend viele Zwergschnäpper finden sich in den dichten Büschen unter den hier rastenden Zugvögeln. Hauptsächlich sind es aber die vielen Neuntöter oder Rotrückenwürger, wie der kleine Singvogel auch genannt wird, die mich beeindrucken. Auch der dritte deutsche Name ‚Dorndreher‘ bleibt wenig freundlich und die Namen für den kleinen Würger deuten auf seine Jagd- und Lebensweise. Beutetiere von der Größe mittelgrosser Insekten bis zu kleinen Vögeln werden oft auf Dornen in der Vegetation aufgespießt und später verzehrt. Ich komme auf über 30 der bei uns selten gewordenen Vögel. Auch zwei der etwas größeren Schwarzstirnwürger entdecke ich. Pirole huschen fast unmerklich durch die Büsche. Nur ihr melodischer Pfiff verrät sie und ab und zu blitzt das knallgelbe Gefieder auf. Doch ich werde ständig durch die Rufe meiner Freunde und Kollegen abgelenkt. Zum dritten Mal werde ich nun schon aufgefordert, mich den anderen am Tisch zu gesellen. Ich schwöre mir, hier unbedingt noch einmal mit mehr Zeit herzukommen. Es ist jetzt schon bestimmt der fünfte oder sechste solcher Plätze während unserer Reise durch die Ukraine, die ich gerne noch einmal besuchen würde.

Neben Alexander sind Oleg Dudkin vom ukrainischen BirdLife Partner zugegen. Er führt uns fast durchs ganze Land. Seid gut einer Woche sind wir mit ihm unterwegs und suchen einige der ornithologischen Highlights des Landes auf. Dazu am Tisch sitzt Sascha in klassischer voller Tarnmontur uns gegenüber. Als einer der wenigen regionalen Beauftragten ist er hier lokal für den Naturschutz in der Region am Schwarzen Meer zuständig. Sehr versiert und vertraut mit der örtlichen Natur weiss er viel über Vögel, Wölfe und anderes, aber auch die Probleme des Naturschutzes zu berichten.

Esstisch

Wir lasen ihn am Vortage auf dem Weg hierher auf und er führte uns am Vorabend zu den Rotfussfalken. Er hatte vor zwanzig Jahren zum ersten Mal diesen riesigen Schlafplatz der östlichen Falken gefunden. Nicht weit von Odessa in der Dämmerung fallen hier maximal bis zu 50,000 Rotfussfalken ein! Gestern abend waren es vielleicht ‚nur‘ 5000 und die Zahlen wären in den letzten Jahren auch zurückgegangen! Doch soviele Falken um den Vollmond herumschwirren zu sehen, bleibt ein faszinierendes, unvergessliches Naturschauspiel. Und dass gerade von einem Falken, den wir in Deutschland immer als grosse Besonderheit hoch in Ehren gehalten hatten. Sie brüten auch in Kolonien und treten oft auch auf dem Zuge in grosseren Trupps auf. Ich weiss noch, wie Hartmut Hille und ich im Bremer Blockland im Jahre 1974 einen dieser Falken gefunden hatten, der für grosse Aufregung sorgte und erst der zweite Nachweis für Bremen war. Inzwischen hatte ich den begehrten Falken schon mehrere Male in Norddeutschland und auch in England gesehen, doch einen Trupp von 5.000 oder mehr – das ist fast unglaublich. Sie nähmen aber ab, früher gab es viel mehr, meinte Sascha.  Er führt Probleme im Überwinterungsgebiet im Süden Afrikas und die zunehmende Pestizidbelastung in der Landschaft als Ursachen an.

In der Ukraine

Zu guter letzt sitzt Norbert Schäffer an meiner Seite auf der provisorischen Bank. Damals arbeitete er für den RSPB und war für die osteuropäischen Länder und den Aufbau von BirdLife Partner zuständig. Auf seine Einladung hin bin ich mit ihm in der Ukraine unterwegs. Er ist schon oft im Land gewesen und hat Oleg und seiner noch jungen Organisation viel geholfen und finanziell unterstützt. Mich bat Norbert dieses Mal mitzukommen damit wir im Norden des Landes uns die wiederzuvernässenden Moore gemeinsam anschauen konnten. Ob ich Lust hätte, den Süden des Landes im Anschluss daran auch mit zu besuchen, fragte mich Norbert obligatorisch. Er hatte eben auch von den Schlafplatzansammlungen der Falken gehört und wollte auch einige der Steppenprojekte auf der Krim besuchen. Natürlich sagte ich sofort zu und geniesse die wilde Natur, das sonnige Wetter und die herzlichen Menschen.

Alexander erzählt uns, dass er möglicherweise die Dünnschnabelbrachvögel die letzten Nächte gehört hat. Er läßt nachts ein Tonband laufen und nimmt die Rufe auf. Es ist sehr wenig von den Rufen der seltenen Vögel bekannt und ich traue mich nicht, etwas zu erkennen . Auch schafft Alexander nicht, die entsprechende Stelle mit den Rufen auf der Kassette zu finden. Zwei Solarzellen liegen in der prallen Sonne und versorgen Alexander nachts mit ein wenig Licht, aber nicht genug, um die Batterien des Rekorders aufzuladen. Ob er denn einen Verdacht hätte und die vielen Brachvögel schon alle durchgeschaut hat, frage ich ihn. Doch er weicht ein wenig aus und verspricht uns, uns nach dem Essen in die Salzwiesen zu führen.

Roter Queller

Die Landschaft ist einmalig und kaum eine Seele von Mensch zu sehen. Vereinzelt kommt ein Angler auf dem Motorrad vorbei, aber keine Touristen. Die Salzwiesen leuchten jetzt im September alle rot vom Queller und der Salzmiere, durchzogen vom Violet des Strandflieders, ganz ähnlich wie bei uns am Wattenmeer. Nur sind viele Pflanzen, vor allem der Strandflieder deutlich grösser als bei uns. Dazwischen finden sich Trockenrasen und bunte Blumen. Sascha zeigt auf eine Stabheuschrecke. Auch eine Gottesanbeterin tarnt sich gut an langem Halm. Ich bin begeistert und würde am liebsten hierbleiben. Wie muss die Nacht erst sein, wo doch kein fremdes Licht den Sternenhimmel stört.

Abdrucke im Watt

Eine Spur von hundegroßen Abdrucken führt durchs Watt auf uns zu. Hier gibt es keine Hunde, vielleicht ein paar streundende Hunde aber eher doch Wölfe, die Alexander auch schon gehört hat. Die Brachvögel bleiben weit weg und um die Mittaszeit flimmert es zu sehr, um auch nur einen Versuch zu machen, den etwas kleineren und mit einem dünneren Schnabel, mysteriösen Brachvogel zu finden. Wirklich schade, aber ich muss wieder hierherkommen, schwöre ich mir nun schon zum siebten Male. Wie immer provisorisch, aber beeindruckend wird schnell ein Feuer für Tee entfacht damit wir vor der Weiterreise erfrischt sind. Wir fahren nicht weit und halten an einer Stelle im Hinterland der riesigen Lagune, die Sascha für lohnenswert erachtet. Es werden viele Windkraftanlagen mit deutscher Unterstützung in der näheren Umgebung erbaut und viel Erde ist aufgewühlt. Es sieht so aus, als ob dieses Refugium nicht lange halten wird. Wir ersteigen einen Damm und laufen ein Stück dort entlang, um einen besseren Einblick in die dahinter liegenden Schlammflächen zu bekommen. Ich kann gerade mit dem Teleskop darüberschauen. Es gibt sehr viele Limikolen. Die meisten sind Rotschenkel, Teichwasserläufer und Bruchwasserläufer, auch Sumpfläufer finden sich darunter. Sascha entdeckt sogar drei Odinshühnchen die ihre nimmer endenden Kreise drehen und so Kleinstlebenwesen aufwirbeln und verspeisen. Ich bin froh, dass ich Sascha eine Zwergschnepfe zeigen kann. Erst ist er skeptisch, doch dann beginnt sie das charakteristische Wippen und er ist begeistert. Sascha ist ein sehr engagierter Naturschützer, aber er ist sehr frustriert und beschreibt, wie er oft von seiner eigenen Behörde zurückgepfiffen wird und zusehen muss, wie wichtige Gebiete doch der nun unaufhaltsam fortschreitenden Entwicklung an der Küste weichen müssen. Die Windturbinen beäugt er auch mit Argwohn.

An der Schwarzmeerküste in Ochakov

Schon am Morgen sind mir die vielen Kormorane vor der Abfahrt der Fähre am Hotel in Ochakov an der Hafenmole aufgefallen. Ich glaube, ich habe noch nie soviele Kormorane auf einmal gesehen. Jeder freie Platz an der Mole und auch auf den Schiffen ist schwarz mit Kormoranen bedeckt. Was muss es hier für einen Fischreichtum geben. Trotz der viel beobachteten Jagd scheinen diese oft bei uns geschmähten Seeraben, sich hier hervorragend zu halten.  Zum wiederholten Male entdecke ich die grossen Mengen an Vögeln neben der Vielfalt an Arten, die mich hier an der Schwarzmeerküste beindrucken. Es fliegen auch in alle Richtungen lange ‚Ketten‘ von Kormoranen. Es ist sehr schwer zu schätzen, aber ich glaube es sind mindestens 10.000 Kormorane allein hier im Hafenbereich von Ochakov.

Am nächsten Morgen fahren wir noch vor dem Früstück mit einem Elektromotor betriebenen kleinen Boot mitten in das Dneprdelta. Unser Gastgeber, der Hotelier, möchte gerne den Ökotourismus hier gefördert sehen. Er lädt uns zu dieser kleinen Bootstour ein und ist zu Recht stolz auf diesen leisen Elektromotor, etwas dass ich mir an so vielen anderen schönen Feuchtgebieten gewünscht hätte. Da nur zwei Personen mitkommen, sind nur Norbert und ich im Boot. Links und rechts im Schilf erheben sich Rohrweihen. Zwergschaben fliegen vor uns auf. Bartmeisen rufen ihr charakteristisches ‚ping ping‘. Wir kommen an eine offene Stelle mit viel Schwimmblattvegetation. Mehrere kleine Rallen laufen vor uns regelrecht über dem Wasser, kommen aber gerade noch bevor sie im Schilf verschwinden zum Halt. Darunter befinden sich Tüpfel- und mindestens zwei Kleine Rallen. Nun ist Norbert, der zu den Rallen promoviert hat in seinem Element. Dies sind wirklich seltene Beobachtungen und ohne Elektromotor sicherlich nicht möglich.

Am Asowschen Meer

Wir fahren nun weiter auf die Krim. Der Übergang ist kaum merklich, doch sehen wir zu beiden Strassenseiten die riesigen Salzlagunen des Siwasch Feuchtgebiet. Dieser berühmte Zwischenstop für viele Wasservögel, bleibt für uns aber nur ein flüchtiger Eindruck, wie so vieles unausweichlich bei der Kürze der Reise. Unser heutiges Ziel das Karalarskij Steppenschutzgebiet liegt ganz im Osten an der Nordküste der Kherch Halbinsel am Asowschen Meer. Wir haben Glück. Es ist fast ganz windstill und die Steppe zeigt sich von einer eindrucksvollen Seite. Wir schaffen es gerade noch eine Grosstrappe zu erheischen. Kleine Trupps von insgesamt 200-300 Kalanderlerchen sind beeindruckend und sehr viele Bienenfresser finden sich allgegenwärtig. Das beeindruckendste ist aber eindeutig das massenhafte Schwärmen von Abermillion von Ameisen und zwar nicht nur an ein oder zwei Stellen. Die kleinen beflügelten Ameisen schiessen regelrecht in nicht enden wollenden Strömen wie kleine Geysire aus tausenden von Quellen, soweit wir gucken können, aus dem Boden in die Luft. Es sind Zehntausende, wenn nicht hundertausende ‚kleine Geysire‘ über die ganz Steppe verteilt, Galaxien mit Sternen am Himmel nicht unähnlich, unzählig und Millionen aus jeder Galaxie verteilen sich weitflächig über die Steppe bis weit hinaus aufs Meer. Wie auf Kommando haben sich alle Ameisen vereinbart, gleichzeitig an diesem windstillen Tag auszuschwärmen. Ein unglaublicher Anblick. Wir sprechen nicht mehr, bis unser doch zu sehr gedrängter Ablauf uns zur Weiterreise zwingt. Die Bienenfresser kommen kaum hinter dem unverhofften Glück hinterher und verspeisen die im Übermaß vorhandenen Ameisen. Sie beglücken uns mit ihren akrobatischen Luftspielen. Es sind mehrere hundert, die sich an dieser Jagd unter unentwegtem, weich flötenden Trillern beteiligen.

Es sind die Massen an Lebewesen, die mich immer wieder in diesem Land beeindrucken. Ein Blick über die Klippen auf das Asowsche Meer lässt zudem erahnen, dass die Ameisen bis weit aufs Meer herausgflogen sind, denn Schwarzhalstaucher, kleine Lappentaucher, die normalerweise auf Tauchgang kleinen Fischen hinterherjagen, picken nun im unverhofften Glück die unzähligen Ameisen als willkommene Abwechslung von der Meeresoberfläche auf.

Am nächsten Morgen besuchen wir ein weiteres Steppenschutzgebiet in der Nähe. Direkt an der Küste in wunderbarer Landschaft. Steppenhasen und ein Fuchs laufen uns mehrmals über den Weg. In nahen Höhlen finden sich Spitzohrfledermäuse. Unter vielen durchziehenden Singvögeln sind es wieder die vielen Würger, die auffallen. Ich notiere bis zu 40 Neuntöter und 5 Schwarzstirnwürger. Die Zahl der Grau- und Zwergschnäpper ist mit jeweils über 50 noch höher und zeigt die grosse Vielzahl an Insekten in der Region an.

Dieses Gebiet liegt in einer eigenartigen gemeinsamen Zone, zwar ukrainisch, aber hier werden russische militärische Übungen durchgeführt. Eine Art Pufferzone, alles sehr umstritten von ukrainischer Seite und es ist ein Vorgeschmack, auf dass, was sich anbahnte und schon drei Jahre später im Jahre 2014 mit der russischen Annektion der Krim umgesetzt wurde.

Historische Auseinandersetzungen um die Krim

Die Halbinsel Krim war schon oft Mittelpunkt militärischer Auseinandersetzungen. Am bekanntesten ist wohl der Krimkrieg von 1853-56  zwischen England, Frankreich und dem Osmanischen Reich auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Nach dem ersten Weltkrieg und der Revolution wurde die Krim von Griechen, Bulgaren, Tartaren, Armeniern, Krimdeutschen und anderen nicht slawischen Völkern ‚geräumt‘. Am 20. August 1941, kurz nach Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges, ließ Stalin noch vor Eintreffen der deutschen Wehrmachtsverbände aus Furcht vor einer Kollaboration mit dem Feind fast 53.000 Volksdeutsche von der Krim „auf ewige Zeiten“ vertreiben. In aller Eile mussten sie das Nötigste zusammenpacken und wurden, zusammengepfercht in Viehwaggons, hauptsächlich nach Kasachstan transportiert. Viele starben schon an den Strapazen der tagelangen Fahrt.

Auch im Zweiten Weltkrieg wurde die Krim stark umkämpft und zeitweise durch die Wehrmacht besetzt, aber 1944 wieder durch russische Truppen rückerobert, 1954 von Chrutschow der Ukrainischen Sowjetrepublik zugeteilt. Dies wurde durch die Besetzung und Annexion 2014 wieder rückgängig gemacht.

In Kherscht und im Verlauf der weiteren Küste begegnen uns mehrere Denkmale, Zeugen der jüngsten oder etwas länger zurückliegenden Zeit. Alle deuten entweder auf den Krimkrieg und die verschiedenen Belagerungen von Sewastopol hin oder den Großen Vaterländischen Krieg, wie der Zweite Weltkrieg bei den Russen heisst. Auch die Massendeportationen und spätere Wiederkehr der Tartaren, die gleich mehrmals vertrieben wurden, wird durch Denkmale bezeugt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden mehr als 184,000 Tartaren verbannt, obwohl die meisten an der Seite der Russen gekämpft hatten, nach Sibirien verschickt, da sie mit den Deutschen während der kurzen Besetzung der Halbinsel in Kontakt kamen. Erst 1967 wurden sie von dieser Kollektivschuld befreit. Im Jahre 2001 gab es immerhin noch ca. 3000 deutschstämmige und gut 250 davon, die noch deutsch als Muttersprache angaben.

Es gibt Orte, an denen besonders viel Leid zusammenkommt und immer wieder dort zusammentrifft. Die Krim scheint ein solcher Ort zu sein. Die Annektion von 2014, nur drei Jahre nach unserem Besuch, lief vergleichsweise glimpflich und ohne Blutvergiessen ab, doch ist mehr als je zuvor ungewiss, wie sich die Angelegenheit dort in Zukunft weiter verhält.

Während im Westen große Empörung über die offensichtlich dreiste Landnahme entstand und weitreichende Sanktionen gegen Russland eingesetzt wurden, sehen fast alle meine russischen Freunde kein Problem damit. „Christoph, dies war schon immer Teil von Russland. Nur Chrutschow hat es den Ukrainern gegeben“ Ich antworte dann und provoziere natürlich auch, denn es sind alles sehr gute Freunde: „ Königsberg war auch immer unser! Es hat ungefähr die gleich Größe. Wir können doch um des Frieden willen tauschen.“ Dies ruft natürlich Aufregung und Widerspruch hervor. „Christoph, Das ist doch etwas anderes, eine andere Geschichte“ meint mein langjähriger Freund Kostya, Professor in St. Petersburg. „Nein, unmöglich“, erwidert mein Freund Volodja, „da in Kaliningrad Atomraketen stationiert sind“. Keiner versteht die Aufregung im Westen und im Westen versteht kaum jemand die Ängste der Russen, dass die Ukraine nun auch noch in die NATO oder gar in die EU kommt und der Einflussbereich Russlands noch weiter vermindert wird.

Die Diskussion geht noch weiter und flammt immer mal wieder auf. So auch in einer Trinkrunde vier Jahre später am 50. Geburtststag meines Freundes Zhenya. Der Abend war schon etwas fortgeschritten und die Runde weitgehend alkoholisiert. Neben ein paar alten Bekannten von früheren Festen und Tagungen, waren auch ein paar neue Gesichter dabei. Nastiya kenne ich von unserer Gänsearbeit. Sie ist Herausgeberin der ornithologischen Zeitschrift ‚Kasarka‘. Yuri macht Geschäfte mit der Einfuhr von Sanktionsgütern aus der EU, die er in Weissrussland, dass nicht von den Sanktionen betroffen ist, neu kennzeichnen lässt und dann nach Russland einführt. Ein einträgliches Geschäft, wie er meint und hebt die Gläschen. Andre arbeitet bei der russischen Botschaft in Indien. Die anderen am Tisch werden mir nicht weiter vorgestellt. Das Thema kommt wieder auf die Krim und die Sanktionen und ich, auch schon leicht angeheitert, kann es nicht lassen und versuche meinen Königsberg Testballon. Die bekannte Empörung, aber auch Gelächter. Nur Andre streckt mir sofort die Hand entgegen, als würde er sagen: „Deal! Abgemacht!“ Daraufhin noch mehr Gelächter!

Die Freiheit wird Euch frei machen!

Christian Erasmus Zöckler (Jhg. 1925) berichtet von seinen fünf Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft in einem Steinbruch bei Sewastopol auf der Krim. Erasmus ist ein sehr entfernter Verwandter einer parallelen Familie in Grünberg mit einem gemeinsamen Vorfahren aus dem 17. Jahrhundert. Trotzdem lernten wir uns über seinen Neffen Christofer Zöckler kennen. Dies ist aber eine lange Geschichte, die ein anderes Mal erzählt werden soll. Bereits 1953 veröffentlichte Erasmus seine Erlebnisse aus der Kriegsgefangenschaft auf der Krim in einem Buch.: ‚Die Freiheit wird Euch frei machen!‘:

Draußen treten sie zu je hundert Mann an und warten auf die Wassersuppe. Das Lager liegt weithin sichtbar auf einer Anhöhe, und durch die Maschen des Stacheldrahts sehen die Gefangenen hinter den Kalkfelsen, die die Meeresbucht umrahmen, die große zerstörte Hafenstadt liegen. Dort, wo hinter den gigantenhaften Festungswerken der kleine Leuchtturm steht, beginnt im matten Dunstschleier des Morgengrauens verschwimmend das offene Meer.

Sie setzen sich auf dem Hofe nieder und warten. Kaum einer spricht ein Wort, denn die Furcht vor zwölf harten Stunden, die vor ihnen liegen, lastet auf jedem einzelnen. Viele verbergen das Gesicht in den Händen, und wenn man die Augen zupresst, tanzen in hellen Kreisen Figuren auf und ab. Wenn sie in tausend bunten Punkten und Sternen versprühen, sieht man in einem dunklen Raum zwei Augen, die eigenen Augen. Sie blicken einen an, und man findet sich selbst. „Du mußt durchhalten“ sprechen die Augen. „Es gibt noch ein Leben, das wahre Leben, das wartet auf dich!“

In Jalta

Oleg, Norbert und ich fahren den ganzen Tag von der Kherch Halbinsel bis nach Jalta. Eine schöne große Stadt direkt am Meer gelegen, herrlicher Sonnenuntergang spiegelt sich im Meer, Palmen säumen die Promenade, ein mittelmeerartiges Flair. Wer hat nicht von der berühmten Konferenz gehört, auf der die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hier in Jalta Deutschland aufgeteilt hatten. Jalta ist ein Schicksalsort für Deutschland, aber auch ein Ort, der schon lange vorher viel Tragik und Leiden erlebt hat. Heute steht die aufstrebende, vibrierende Grossstadt im bunten Lichterzauber einer ‚blühenden‘ und umtriebigen Promenade. Kreuzschiffe liegen vor Anker und Menschen drängen sich in die Restaurants und Cafes. An derselben Promenade im warmen Sonnenschein des nächsten Morgens nehmen wir an diesem denkwürdigen Ort unser Frühstück ein mit Blick aufs Schwarze Meer. 

Norbert hatte schon viel von den hier durchziehenden Wachtelkönigen gehört, die hier an der steilen Küste in den Anhöhen rasten und auf günstige Bedingunen für den Weiterzug warten und oft gefangen werden. Diesen wollen wir einen Versuch geben und hoffen aber auch auf den hier oft beobachteten Greifvogelzug. Leider wurde weder ein einziger Wachtelkönig gefunden noch ein einziger Greifvogel gesehen. Doch etwas später fallen uns noch ein paar Gänsegeier an den Klippen auf, doch richtiger Zug war heute leider nicht.

Ein sehr langer Rückweg liegt vor uns. Ein tolles Land, dass ich mir so oft geschworen hatte, wiederzubesuchen, doch dies wird sich wohl in absehbarer Zeit nicht mehr verwirklichen lassen.