Eine neue Realität – Teil 1

Kategorien:

Pendler zwischen den Welten oder Vermittler zwischen den Kulturen?

Von: Christoph Zöckler

Im April 2021 schien es nun zum ersten Mal seit Inkrafttreten des Brexit zu gelingen, wieder einmal die Seiten zu wechseln und einen Besuch in Deutschland zu riskieren. Corona hatte es lange verhindert und auch jetzt sind noch viele Hürden, durch die Pandemie bedingt, zu nehmen. Ich versuche dennoch, meine Mutter in Bremen zu ihrem 96. Geburtstag zu besuchen und bereite mich auf eine Reise in der Corona-Zeit von Cambridge in Großbritannien nach Bremen in Norddeutschland vor.

Homeward Bound – where is home?

Ich muss mich mit guter Begründung in England abmelden und ein entsprechendes Formular runterladen und mit Begleitschreiben belegen. Mehrere Tests sind gefordert. Auch im Zielland Deutschland muss ich mich mit Addresse anmelden und für 10 Tage in Quarantäne begeben. All diese Formulare und Papiere kann ich beschaffen, aber sie hängen alle mit Corona zusammen und nicht unbedingt mit Brexit. Seit dem Brexit habe ich mich im ‚Permanent Settlement Scheme‘ erfolgreich als in Großbritannien lebender Mensch angemeldet und ich muss meine Krankenversicherung im europäischen Ausland erneuern, wenn auch ein bürokratischer Akt, aber es wird doch sehr schnell und problemlos erledigt. Vieles an den neuen Corona-bedingten Formularen und dem Prozedere erinnert mich an die endlosen und sich jedes Jahr ganz geringfügig ändernden Visabestimmungen für Reisende nach Russland oder China, wo ich seit vielen Jahren für den Naturschutz tätig bin.

Es ist immer spannend und oft mit kleinen Umwegen verbunden, jedoch, wie auch jetzt, so kompliziert, dass jegliche Vorbereitung müssig erschien oder eher einem Lottospiel glich. Doch jetzt sind zwei Dinge, Brexit und Corona, zusammengekommen und haben jegliche Vorbereitung selbst für Experten des Kleingedruckten unmöglich gemacht. Dies ist eigentlich ganz nach meinem Geschmack, da ich ein bisschen Risiko und Schicksal liebe, wenn auch auf den einen oder anderen stressigen Zwischenfall gut verzichten kann. So schien ich gut vorbereitet mit einem negativen Testergebnis eines nicht billigen PCR Testes ausgerüstet und vorbereitet am Schalter der Stenaline in Harwich angekommen. Gut gelaunt und beschwingt durch eine anregende Diskussion im Radio über ‚Realität‘ mit herrausragenden Nobelpreisträgern, Wissenschaftlern und Komikern, eine Kombination, die es offenbar nur in England gibt, in der es um Quantentheorien und Kosmos, Himmel und Wiedergeburt ging, angereichert durch Geschichten, die das Leben als Realität beschreiben.

fbt

Zwischen England und Norddeutschland

Meine Sorgen galten mehr den mit Pfeffermakrelen belegten Broten, die ich mir für den Abend, aber auch für die lange Reise durch Holland vorbereitet hatte. Wurst und Fleisch hatte ich lieber weggelassen, aber schon beim Schmieren merkte ich, dass ich mal wieder nicht das Kleingedruckte gelesen hatte. Wie war es denn mit Käse? Waren nicht einigen der Fernfahrer die Brötchen weggenommen worden? Ich war mir sehr unsicher, ging aber das Risiko mit den Pfeffermakrelen ein!

Doch es kam natürlich ganz anders. Meine Sandwiches und mein ganzes Gepäck waren uninteressant, obwohl zum ersten Mal mein Wagen immerhin mit Spiegeln von unten gescheckt wurde. Nein, mein teures PCR Testzertifikat war nicht ausreichend. 48 Stunden seien zu lang. Der Holländer fragt jetzt nach einem Test, der nicht älter als 24 Stunden alt sein darf, hiess es deutlich und ohne Spielraum für Verhandlungen. Blitzschnell ist der Stress da. Die Dame am Schalter klärt mich in aller Ruhe auf, dass ich aber noch ausreichend Zeit hätte und den schnellen Antigen Test in Colchester, ca. 25 Minuten mit dem Auto von Harwich, nachholen kann. Ich sehe im Geiste meine Chancen schwinden, mich wieder auf den Weg zurück, das Ticket für den nächsten Tag umbuchen, etc….Nein ich versuche es. Plötzlich sah ich mich einer neuen Realität gegenüber, Flüche im leeren Auto durch nachtleere Strassen, eine super freundliche, geduldige Assistentin in Raumschiffmontur im hell beleuchteten Garagenhof des Industriegelandes von Colchester mit dem Testgerät in der Hand, aber ich hatte es noch gerade geschafft. Das Kleingedruckte versteckte sich nun noch geschickter. Ich sah mehrere Autos umkehren. Ob alle so viel Glück hatten wie ich?

Um es gleich vorwegzunehmen; ich kann, habe und hoffentlich muss ich mich nicht für das eine oder andere Land entscheiden. Oft werde ich sowohl von deutschen wie englischen Freunden gefragt, ob ich denn nun, wo der Brexit gekommen ist, wieder nach Deutschland zurückkehren möchte. Aber bei genauer Sicht stellt sich die Frage als komplizierter und nicht leicht zu beantworten. Viele Deutsche, Niederländer, Belgier oder Franzosen sind zurückgegangen und viele haben auch den britischen Partner mitgenommen. Manche Briten, die den Lebensabend im warmen Spanien oder Frankreich verleben, sind unruhig geworden und bangen um ihre Pensionsansprüche. Viele kehren zurück. Es ist Unruhe und Bewegung entstanden. Jede Situation ist anders und oft zwingen private Umstände gegen politische Überzeugung und kulturelle Vorlieben Entscheidungen zu fällen.

Solche Entscheidungen habe ich bisher vermieden. So wie ich zwischen der Frage ob in England bleiben oder nach Deutschland zurückkehren aus dem Weg gehe, so pendele ich hin und her, kreuze den Kanal, nehme den Eurostar und reise immer seltener mit dem Flugzeug zwischen meiner Wahlheimat Cambridge und meinem Geburtsort und meiner alten Heimat Bremen. Schon immer hatte es mich nach Grossbritannien gezogen. Schon als Schüler im Ausstausch und später als Reisender meist nach Schottland. Dort studierte ich auch für ein Jahr und seit 1996 lebe ich permanent in Cambridge, in der kleinen Studentenstadt mit internationalem Flair, die nicht ganz typissch für England und Großbritannien ist. Regelmässig reise ich bis zu sechsmal im Jahr für kurze Zeit nach Deutschland und bleibe somit mit meiner alten Heimat, meiner Familie, meinen Freunden, der Kultur und Natur verbunden.

Engländer, Deutsche, Europäer

Eigentlich war es nicht verwunderlich, dass sich viele, gut die Hälfte, der Briten gegen den Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen haben, denn die Unterschiede zum Rest von Europa und vor allem das Unverständnis von Europa sind doch sehr gross. Schon zu Beginn meiner Zeit, auch ohne die intimen Kenntnisse der Sprache und Kultur zu verstehen, sind mir merkwürdige Dinge begegnet, die mich aufhorchen ließen. So sind die meisten Naturführer, auch der mir gut bekannte Vogelführer als: ‚Die Vögel von Grossbritanien und Europa, Die Flora von Großbritannien und Europa‘ tituliert. Dies wird dann auch bei meinem Anmerken auch  mit grossem Unverständnis kommentiert, so als ob es doch klar wäre, dass der europäische Kontinent von Großbritannien klar getrennt ist. So bestätigte auch die Zeitungsüberschrift: ‚Kontinent von dichtem Nebel abgeschnitten‘. die klare Trennung und nicht-Zugehörigkeit zu Europa.