Sylvia Mlynek
Eine ehemalige indische Kollegin, ich will sie hier Lakshmi nennen, die ich 2008 in unseren „weltwärts-Bremen Projekt“ kennengelernt habe, ist mir zur Freundin geworden. Wir hatten zunächst nur eine Arbeitsbeziehung, die sich im Laufe von zwölf Jahren, wenn wir uns trafen, was zweimal im Jahr in Bangalore und in Bremen der Fall war, persönlicher wurde.Wir trafen uns regelmäßig auf einen Kaffee im Restaurant in Bangalore und tauschten uns über dienstliche Projekte und Vorhaben aus. Nach vier Jahren ließ Lakshmi zu, dass wir über ihre Karriereplanung sprachen. Sie wollte sich gern weiterentwickeln, eine Dissertation in Deutschland schreiben, eine bessere berufliche Stellung wäre möglich gewesen. Ich habe sie darin bestärkt, sich weiterzuentwickeln aus dem engen Korsett, das die indische Gesellschaft der Frau zuschreibt, herauszuwachsen. Dabei war mir nicht klar, wie eng dieses Korsett für Lakshmi tatsächlich war und immer noch ist.
Karriereplanung
Sie ist unverheiratet – eigentlich ungewöhnlich – und nicht erstrebenswert für Inderinnen. Ich hatte angenommen, dass Ihr dadurch mehr Freiheiten möglich sind. Das war allerdings ein Irrtum, eine westliche Vorstellung. Alle Rechte und Pflichten, die Ehemänner für ihre Ehefrauen übernehmen, da es im Gesetz so geregelt ist, übernimmt für sie der Vater. Selbständigkeit der Frauen ist nicht vorgesehen. Die meisten Regeln ergeben sich zudem durch die Gesellschaft und die Religion.
Lakshmi lebt mit ihren Eltern in Bangalore und war für ihre Versorgung zuständig, da ihr Bruder mit seiner Familie ins Ausland gezogen war und ihre Schwester in einer eigenen Familie lebte. Lakshmi fand in ihrem Beruf ihre Erfüllung, sie war engagiert, beliebt und fachlich sehr versiert. Es war ihr regelmäßig möglich, nach Deutschland zu reisen, wo ihr Arbeitgeber seinen Hauptsitz hatte und nach Norwegen, wo ihr Bruder mit seiner Familie lebte. So konnte Lakshmi mich auch in Oldenburg besuchen und wenigstens für einen Tag genossen wir einen interkulturellen und freundschaftlichen Austausch.
Freundschaft
Sie wünschte sich eine längere Fahrt durch Deutschland zu unternehmen und wollte den Schwarzwald sehen. Diese Planung begann im Jahre 2014 und ich wollte sie begleiten. Ich hatte erwartet, dass das Vorhaben im folgenden Jahr realisiert werden würde. Von diesem Zeitpunkt an sind wir uns nähergekommen. Wir sprachen auch über persönliche Zwänge und Herausforderungen, „Challenges“, wie Lakshmi sie nennt. Diese Herausforderungen gründen sich oft in unterschiedlichen kulturellen Sichtweisen.
Dann wurde ihre Mutter krank, ihr Vater gebrechlicher und an eine größere Europareise war nicht mehr zu denken, da die Verantwortung für die Eltern bei Lakshmi lag. Die Reise nach Deutschland wurde auf unbestimmte Zeit verschoben.
Wir tauschen uns immer noch, nach mehreren Jahren, regelmäßig per E-Mail und telefonisch aus, da wir uns seit 2018 nicht mehr persönlich getroffen haben. Im letzten Jahr hat die Pandemie ein Treffen verhindert, das Corona-Virus bindet uns beide an die Familie und ans Haus.
Vergleichbarkeiten zwischen meiner Familie und Lakshmis traten ein, ganz unerwartet. Ich hatte ein pflegebedürftiges Familienmitglied im Haus und war an das Haus gebunden. Wir beiden mussten auf Hilfe durch eine zusätzliche Person aus Sicherheitsgründen verzichten und beschrieben uns regelmäßig die aktuelle Situation in Bangalore und in Oldenburg. Die Situation und die persönliche Lage und unsere Befindlichkeiten wurden ähnlicher.
Kulturelle und persönliche Unterschiede
Lakshmi ist an ihre indische Tradition, ihre Frauenrolle gebunden und mit ihrer Familie so fest verbunden, dass sie nicht auf die Idee käme, aus dieser Rolle auszubrechen. Sie würde nicht in Deutschland leben wollen, obwohl sie das „westliche“ Leben durch Besuche und Kontakte kennengelernt hat. Ich froh darüber, dass meine Sozialisation im „Westen“ stattgefunden hat und dass ich in Deutschland verwurzelt bin. Als Nachkriegskind aus einer Arbeiterfamilie musste ich für meine Schulbildung und Ausbildung kämpfen. Mein Vater hielt nichts von der Ausbildung seiner Töchter. „Arbeiten und Geldverdienen“ bis zur Heirat – das war seine Meinung. Zum Glück bot sich mir die Möglichkeit zu einer eigenen Entwicklung mit finanzieller Unabhängigkeit und Selbständigkeit.
Ich fühle mich mit meiner Freundin, die sie jetzt geworden ist, sehr verbunden. Wir haben in zehn Jahren gelernt einander zu schätzen, zu respektieren und behutsam mit eigenen Vorstellungen voneinander umzugehen. Lakshmi und ich schätzen gleichermaßen die gegenseitige persönliche Bereicherung, die durch unser Kennenlernen vor zehn Jahren entstanden ist.
Gelegentliche Funkstille ist normal
Mehrere Wochen erhielt ich keine E-Mail zurück. Es kam keine Antwort aus Indien. Ich machte mir Sorgen, was wohl geschehen sein könnte. Lakshmi sorgte sich gleichermaßen. Inzwischen ist die Kommunikation wiederhergestellt. Sie hatte eine ungültige E-Mailadresse benutzt, deshalb erreichten mich ihre Antworten nicht. Wir haben gegenseitig immer hartnäckig nachgehakt, da wir beide ein Ende unserer Freundschaft nicht hinnehmen wollten. Kontakte zu anderen Leuten in Indien oder anderen Ländern brechen üblicherweise schnell ab. Diese Beziehung ist eine Ausnahme.
Warten bis die Zeit gekommen ist
Wir planen immer noch den Besuch von Lakshmi in Deutschland, wenn die Corona-Pandemie überwunden ist und sie nicht mehr für die Eltern sorgen muss. Einige Familienmitglieder sind inzwischen gestorben und so lösen sich Probleme, die „ Challenges“, manchmal auf schlechte oder gute Weise, wenn man wartet, bis die Zeit dafür gekommen ist. Warten bis die Zeit gekommen ist – das ist Teil der hinduistischen Philosophie.