Das Menschheitsexperiment 1

Die Situation der Menschheit hat sich radikal geändert im Frühjahr 2020: das mutierte Corona-Virus hat sich, ausgehend vermutlich von einem Wildtiermarkt in Wuhan, China, durch die Reisen der Menschen vollständig auf dem Planeten Erde ausgebreitet. Das Virus hat die gesamte Menschheit in Haft genommen, unabhängig von deren politischen, kulturellen oder ethischen Glaubensrichtungen.

Die Natur hat ein Menschheitsexperiment gestartet, dass in Form von Pest-Epidemien, Cholera-Seuchen, Grippe-Pandemien oder Ebola-Ausbrüchen regelmäßig auf dem Planeten Erde auftritt und ihren Tribut an Menschenleben fordert. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Auswirkungen sind allerdings im Jahre 2020 anders als in früheren Zeiten und die Risiken und Chancen gleichermaßen sind besonders untersuchungswert. Denn wir leben im Zeitalter des Menschen, dem Anthropozän und unser Alltag gleicht dem Leben in einem Science-Fiction Roman, den wir alle gemeinsam schreiben, wie es der Schriftsteller Kim Stanley Robinson sagt.

Die Menschen setzen das Menschheitsexperiment, das die Natur gestartet hat, in anderer Form fort, wandeln seine Quantität in eine neue Qualität um und übertragen ihre Hilflosigkeit auf Formen des Gemeinschaftslebens, um die Verbreitung des Virus durch Maßnahmen der Isolation und der sozialen Kontrolle zu stoppen. Was mit einer Zoonose begann, also dem Übertreten eines Krankheitserregers von einem Tier auf den Menschen, und seine weitere infektiöse Verbreitung, entwickelt sich zu Verhaltensmustern der Menschen, die sie ihrer Sozialfähigkeit berauben, isolieren und in passive Verhaltensmuster bis hin zu Depression und suizidale Absichten treiben können. Das „Zoon Politikon“, was den Menschen als soziales und politisches Wesen bezeichnet, könnte zum „Zoon Isolatikon“ mutieren, also der vereinzelten und vereinsamten Version eines Einzelkämpfers, der nur an sich denkt, nur für sich existiert und sein Dasein auf Kosten aller anderen Einzelgänger fristet. Die Menschheitsgeschichte ihrer Humanität, die Erzählungen von Gemeinsinn und Gemeinschaftlichkeit müssten neu geschrieben werden.

Dem Zeitalter des Menschen mit seinen gemeinschaftlich begangenen Umweltsünden, die als geologische Marker Jahrzehntausende überdauern, wird mutieren zur Episode des Alleinseins und der Abschottung. Bereits im Frühjahr 2020 zeichnen sich gravierende Umweltveränderungen ab, durch das Zusammenbrechen des Reiseverkehrs und des globalen Flugverkehrs beispielsweise, die die negative Umweltbilanz wenigstens kurzzeitig verbessern. Andererseits werden wichtige Thema wie der Klimawandel zunächst einmal verdrängt oder sogar als unwichtig für die Gesundung der Wirtschaft (ja, solche Worte werden benutzt: die Wirtschaft muss wieder gesund werden) angesehen. Die Not und das Elend der Menschen in Bürgerkriegsgebieten wie Syrien oder dem Jemen sind erst einmal vergessen worden und die Menschen, die ihr Land verlassen müssen und Europa um Hilfe bitten, finden kein Gehör. Selbst die Kirchen als Begegnungsorte des Menschen mit seinen göttlichen Ratgebern, sind im Frühjahr 2020 geschlossen. Wer spendet Trost, wer braucht Trost, wer verdient an der Krise?

Die Menschen beschleunigen das Menschheitsexperiment, indem sie seine charakteristischen Elemente umwidmen und auf soziale Bahnen umlenken. Der Mensch macht aus einer Infektions-Pandemie zunächst ein naturwissenschaftlich-medizinisches Experimentierfeld mit ungewissem Ausgang, dann eine Gesellschaft mit sozialer Isolation, staatlicher Kontrolle und Überwachung und schließlich vielleicht eine neue Form von Gesellschaftsordnung, die auf Verdacht, Vermutung, Vermeidung und Verhinderung aufgebaut sein könnte: Der Verdacht, wer der Schuldige an der Pandemie ist: der Sündenbock. Die Vermutung, wer Infektionsträger ist und deshalb isoliert gehört. Die Vermeidung von allen Begegnungen und gemeinschaftlichen Unternehmungen. Die Verhinderung von Gruppenbildungen, Solidarisierungen und neuen Trends – egal, in welcher Richtung diese gehen sollten. Die Gesellschaft käme zum Stillstand und der Status Quo der Isolierung könnte alles Menschliche zerstören.

Die Menschen überhöhen das Menschheitsexperiment und zerstören sich eventuell selbst dabei, indem die Krisengewinnler unter ihnen die Profitmaximierung ohne jede Rücksichtnahme durchziehen und der größte Teil der Menschheit an den Rand gerät: in die Arbeitslosigkeit, in Krankheit und Tod, in die Abgeschiedenheit sozialer Isolation, in Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit, allein gelassen ohne geglichen Optimismus auf eine gute Zukunft. Die Menschheit könnte an diesem Menschheitsexperiment, wenn sie nichts daraus lernt, zugrunde gehen, sowohl ontogenetisch als vernunftbegabtes Wesen und phylogenetisch als Art.